Nachruf auf Gertrude Schneider
Am 7. September 2020 ist Professorin Dr. Gertrude Schneider verstorben. „Mit Gertrude Schneider ist eine wundervolle Frau, Journalistin und Historikerin, Überlebende des Rigaer Ghettos und mehrerer Konzentrationslager, von uns gegangen. Baruch Dayan haemet. Unsere Gedanken sind bei ihrer Familie“, würdigt Hannah Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, die Verstorbene, die in so besonderer Weise Schicksal und Berufung vereinte.
Gertrude Schneider wurde am 27. Mai 1928 als Tochter von Pinkas Maier und Charlotte Hirschhorn in Wien, Ottakring geboren. 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, wurde sie als Jüdin der Schule verwiesen, das von ihrer Familie in der Wiener Felberstraße geführte Volkswarenhaus Hirschhorn demoliert. Mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Rita wurde Gertrude delogiert – sie mussten in jüdische „Sammelwohnungen“ ziehen; im Februar 1942 folgte schließlich die Deportation in das vom Deutschen Reich okkupierte Lettland. Dort, im Rigaer Ghetto, dokumentierte die 14-Jährige in ihrem Tagebuch die grausamen Umstände des Ghettolebens. 1943 wurde die Familie in das KZ Kaiserwald weiterdeportiert, 1944 in das KZ Stutthof. Nach Sklavenarbeit und Todesmarsch erlebte Gertrude Schneider gemeinsam mit Mutter und Schwester im März 1945 die Befreiung und kehrte nach Wien zurück. Sie mussten erfahren, dass der Vater einen Tag vor der Befreiung im KZ Buchenwald umgekommen war.
1947 emigrierte Gertrude mit Mutter und Schwester in die USA. Sie holte ihren Schulabschluss nach, studierte Mathematik und Geschichte. 1973 promovierte sie an der Graduate School of the City University of New York (CUNY) – Thema ihrer Dissertation war „The Riga Ghetto, 1941–1944“.
Ihrer Heimatstadt Wien blieb Gertrude Schneider trotz allem verbunden. Im Rahmen der Wiedereinbürgerung von Opfern des Nationalsozialismus 1994 nahm sie die österreichische Staatsbürgerschaft wieder an, die ihr – so der damalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl anlässlich der Verleihung – „von der Geschichte weggenommen“ worden war.
Gertrude Schneider vereint in ihrer Arbeit die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Shoah mit dem persönlich Erlebten und Erinnerten – wie etwa in ihrem beeindruckenden Buch „Reise in den Tod“, in dem sie ihre Erfahrungen als junge Zeitzeugin mit der exakten Arbeit der Historikerin verband. In einem Interview hat sie einmal über die Lagererfahrung gesagt: „Es ist keine Verfolgung, es wurde ein Teil von mir.“
Ihr 1995 erschienenes Buch „Exile and destruction. The fate of Austrian Jews 1938–1945“ widmete Gertrude Schneider dem Schicksal der österreichischen Jüdinnen und Juden in den nationalsozialistischen Ghettos und Konzentrationslagern. Ihr ist es zu verdanken, dass dadurch auch die Schicksale der wenigen Überlebenden von Maly Trostinec – jenem Lager bei Minsk, wohin fast 10.000 österreichische Jüdinnen und Juden deportiert wurden – bekannt und für die Nachwelt dokumentiert wurden.
Gertrude Schneider war stets eine aktive Zeitzeugin. In besonderer Erinnerung bleiben ihr Gespräche mit SchülerInnen 2013 in der Demokratiewerkstatt des österreichischen Parlaments bei der Zeitreisewerkstatt „Annexion 1938“, ebenso ihre beeindruckende Gedenkrede im Jahr 2017 anlässlich des jährlichen Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im historischen Sitzungssaal des Parlaments in Wien, in der sie schilderte: „Vertreibung, Drohungen, Verarmung, Deportierung in eine teuflische Welt, in Ghettos, Arbeitslager, Konzentrationslager, Todeslager, ob mit Erschießen oder mit Gas, und am Ende des Krieges die blutigen Todesmärsche – ich erlebte und überlebte sie alle; deshalb bin ich heute hier, denn ich bin eine der Letzten. Außerdem hatte ich es meinem geliebten Vater versprochen. Schreib auf, was wichtig ist!, sagte er, als er mir am Freitag, dem 27. Mai 1938, meinem zehnten Geburtstag, ein Tagebuch schenkte. Es ist deine Pflicht! Sie, meine verehrten Zuhörer, die mich eingeladen haben, helfen mir an diesem offiziellen österreichischen Gedenktag, meines Vaters Wunsch zu erfüllen, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen.“
Ein Herzenswunsch Gertrude Schneiders wird sich jedoch nicht mehr erfüllen – sie formulierte ihn vor zwei Jahren gegenüber Kurt Yakov Tutter, dem Initiator der im Wiener Ostarrichi-Park entstehenden Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte: „Kurt, ich bin alt und krank, ich lebe aber jetzt nur für einen Traum: dass ich zur Vollendung der Gedenkstätte mit meiner Tochter nach Wien reisen kann, um den Namen meines Vaters graviert auf den Gedenkmauern zu sehen. Dann kann ich mich vom Leben verabschieden.“
Die Eröffnung der Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte wird Gertrude Schneider nicht mehr erleben. Doch der Name ihres Vaters wird auf einer der Steintafeln verewigt sein. Und auch das Andenken an seine Tochter Gertrude wird erhalten bleiben – sie selbst hat es am Gedenktag 2017 gesagt: „Meine Bücher werden weiter sprechen, wenn die letzten Zeugen schweigen.“